In Vielfalt geeint

In Vielfalt geeint.

Heute ist ein besonderer Tag, deren Hintergrund nur wenige Menschen kennen: Am 09. Mai gedenkt die Europäische Union einem ihrer Architekten. Robert Schuman, ehemaliger französischer Außenminister, legte im Jahr 1950 mit einer wortgewaltigen Rede seine Gedanken für eine friedvolle Einigung der europäischen Völker dar. Schuman wusste nicht, dass er damit das größte Friedens- und Einigungsprojekt der Welt vorzeichnete und dass damit, auf die Schrecken zweier Weltkriege mit Millionen von Toten und den folgenden Wirtschaftskrisen schwerwiegenden Ausmaßes, über 70 Jahre Frieden folgen sollten.

70 Jahre nach Schumans Pariser Erklärung befindet sich die Union in einer tiefen Krise. Unter den Auswüchsen der Corona-Pandemie muss die Union der 27 einmal mehr beweisen, wie belastbar sie ist und wie schnell sie reagieren kann auf eine Bedrohung, die nicht sichtbar ist. Mit einem einzigartigen logistischen und medizinischen Aufwand leisten die EU-Staaten untereinander Solidarität. Französische Ärzte behandeln italienische Patienten aus Regionen, in denen Beatmungsgeräte fehlen. Bundeswehrpiloten holen französische Patienten zur Behandlung nach Deutschland. Das alles funktioniert, spielt sich ein – und baut auf den Errungenschaften der letzten 70 Jahre auf.

Neben den medizinischen Hilfsmaßnahmen und der kurzfristigen Umwidmung von Struktur – und Kohäsionsmitteln, schmieden das EU-Parlament, die EU-Kommission und der Europäische Rat finanzielle Hilfen in Billionenhöhe. Kleinen und mittelständischen Unternehmen soll über die Europäische Investitionsbank ebenso geholfen werden wie Arbeitnehmern über das Kurzarbeiterprogramm SURE. Besonders schwer von der Pandemie getroffene EU-Staaten wiederum sollen Geld aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus erhalten. Europa funktioniert.

In diesen Tagen diskutiert Deutschland über Corona-Apps oder Bundesligafußball. Das alles hat seine Berechtigung und trotzdem sollten wir uns bewusstwerden, dass die großen Debatten erst noch auf uns zukommen. So gibt uns das Frühjahrsgutachten der EU-Kommission einen ersten Vorgeschmack auf eine tiefe Rezession mit bis zu 7,7 % Wirtschaftseinbruch. Das bedeutet: Der Wiederaufbau unserer europäischen Wirtschaft und die Stärkung unserer Europäischen Union für die nächsten Jahrzehnte sollte oberste Priorität haben, wenn wir alle von der Phase der wirtschaftlichen Erholung profitieren wollen. Seien wir wie Schuman 1950: Mutig und entschlossen, überzeugt vom Einigkeits- und Friedensgedanken.

Hierzu müssen wir den europäischen Binnenmarkt als unsere Wohlstandsgrundlage schnell neu aufbauen. Deswegen müssen die Grenzkontrollen im Schengen-Raum umfassend aufgehoben werden. Vergessen wir nicht, dass weit über die Hälfte der gesamten deutschen Exporte in Länder der EU erfolgen. Wir müssen den Mehrjährigen Finanzrahmen, also den EU-Haushalt, auf den Wiederaufbau ausrichten und einen „Recovery Fund“ unter parlamentarischer Kontrolle etablieren. Deutschland sollte seinen Anteil am EU-Haushalt erweitern, so voranschreiten und seine wirtschaftliche Stärke klug einsetzen, damit alle gemeinsam besser durch die Krise kommen.

Eines der dominierenden Themen der nächsten Dekaden wird die Frage unseres Umgangs mit Migration. Hierzu legt die Kommission in den nächsten Wochen einen neuen Entwurf für ein Gemeinsames Asyl- und Migrationspaket vor. Ziel muss es sein, Migration und Flucht zu differenzieren. Wir werden effektive und koordinierte Rückführungen, einen robusten Außengrenzschutz und auch mehr Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Union brauchen, sowie den Willen zur Ehrlichkeit, dass Europa nicht jedem Migrationswunsch entsprechen kann. Stattdessen sollten wir unsere Hilfe vor Ort deutlich ausbauen. Uns muss es gelingen, Afrika zu unterstützen, selbst Zukunftschancen zu ergreifen.

Wir müssen zudem über unsere zukünftige außenpolitische Rolle in der Welt nachdenken. Nach drei Jahrzehnten des friedvollen Miteinanders auf dem eurasischen Kontinent, provoziert Russland mit digitaler Manipulation einen Rückfall in alte Muster. Hierauf muss Europa eine gemeinschaftliche Antwort finden. Sollten wir darüber hinaus nicht dauerhaft hinter der Volksrepublik China zurückfallen und auf Augenhöhe mit den USA verhandeln wollen, dann müssen wir unser Engagement in der Welt erhöhen – durch Entwicklungszusammenarbeit, aber auch durch den Aufbau einer starken Verteidigungsunion.

Neben diesen großen Herausforderungen bleiben weitere. So müssen wir mit Vehemenz und klugen Argumenten für Reformen der europäischen Institutionen eintreten. Ja, wir brauchen das Initiativrecht des Europäischen Parlamentes. Ja, wir sollten in wesentlichen Fragen die Einstimmigkeitsregelung des Europäischen Rates durch Mehrheitsentscheidungen ersetzen.

Die Lösungen für die Herausforderungen Europas müssen wir alle gemeinsam suchen – die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine gute Gelegenheit hierzu. Mir geht es darum, dass wir als Unionsbürger unsere Union gemeinsam gestalten, hierzu kann und sollte jeder seinen Beitrag leisten.

Viel zu tun also. Die aktuelle Krise kann Katalysator für eine positive Veränderung sein. Stellen wir uns in den Dienst unseres einmaligen Einigungs- und Friedensprojektes. Kämpfen wir für den Zusammenhalt unserer Union und gehen wir aus dieser schwersten Krise seit 1945 gestärkt und mit Tatkraft in die nächsten Dekaden der Zukunft. Ganz im Sinne der europäischen Vorväter von Robert Schuman, Konrad Adenauer über Charles de Gaulle und Helmut Kohl.

Lena Düpont

Mitglied des Europäischen Parlaments