Europas Einzigartigkeit – Plädoyer für pragmatische Gelassenheit und die Akzeptanz einer nicht-Antwort

Das politische System der Europäischen Union ist eines der dynamischsten Systeme unserer Zeit. Auferstanden aus und geprägt durch beispiellose Ruinen, konsolidiert und gestärkt in Zeiten weltpolitischer Polarisierung, sind wir spätestens seit den 2000er Jahren und beschleunigt durch die weltweite Corona-Pandemie, in der Phase der Neuausrichtung, des Wiederaufbaus angekommen.

„Aufgabe unserer Zeit ist es, Europa für die Zukunft fit zu machen.”

Damit wird gleichzeitig deutlich, dass wir nicht bei Null anfangen (müssen), dass wir, for better or for worse, auf den Erfahrungen und Entwicklungen der europäischen Integration aufbauen können. Wesentlicher Bestandteil dessen ist die grundlegende Akzeptanz der Einzigartigkeit der Europäischen Union. Denn bei aller Ähnlichkeit, bei allen vergleichbaren Organen und Prozessen, funktioniert Politik auf europäischer Ebene nach einer anderen Verhandlungslogik, als wir es erwarten, als wir es aus unserem nationalen System heraus gewohnt sind. Das System der checks and balances verläuft nicht zwischen Regierung/Regierungsmehrheit und der Opposition. Vielmehr geht die Gewaltenteilung zwischen den Institutionen entlang, politische Entscheidungsprozesse leben existenziell vom beständigen Tauziehen zwischen der europäischen und der nationalen Ebene. Die Union bezieht ihre integrative Kraft genau aus diesem Ausgleich zwischen den Interessen. Die vermeintlichen oder tatsächlichen Widersprüche sind die Triebfeder europäischer Politik, sie halten Prozesse am Laufen und erzwingen permanente Anpassungen. Nur so war es bisher möglich, sich über die Jahrzehnte hinweg kontinuierlich fortzuentwickeln und gestärkt aus den mannigfaltigen und tiefgreifenden Krisen insbesondere der 2000er Jahre hervorzugehen.

Dazu gehört, dass die Tiefe sich jeweils nach Politikfeldern unterscheiden kann. Mal überwiegt die Perspektive der Mitgliedsstaaten, mal die europäische- und beides bewirkt gleichermaßen eine Gegenreaktion der jeweils zurückstehenden Ebene. Das ließ sich nicht zuletzt an den Verhandlungen über den Mehrjährigen Finanzrahmen und insbesondere den Wiederaufbaufonds festmachen. Gleichzeitig gibt die von europäischer Seite angestoßene Neuausrichtung der Agrarpolitik auf Zielerfüllung anstelle von Instrumentengleichheit den Mitgliedsstaaten Handlungsraum zurück. Außen- und Innenpolitik sind hochgradig sensible Bereiche nationaler Souveränität. Und trotzdem sind beide Politikfelder dadurch gekennzeichnet, dass unsere internationale Verantwortung und das Schutzversprechen unseren Bürgern gegenüber eine engere und effizientere Zusammenarbeit sinnvoll machen.

Diese Variabilität der Zusammenarbeit, in der Wahl der adäquaten Mittel und Prozesse sollten wir uns erhalten- und uns gleichzeitig zugestehen, dass wir in einigen Prozessen noch nicht so europäisch strukturiert sind, wie es allgemein angenommen wird. Hier spielt Erwartungsmanagement eine große Rolle, das Politik ebenso wie Bürgerinnen und Bürger in die Pflicht zu einem differenzierten Dialog nimmt. Denn nicht zuletzt die Pandemie hat gezeigt: nie war mehr Flexibilität gefragt, nie war das Handeln unter Unsicherheiten präsenter, die war das Fehlen gemeinsamer Erfahrung der Zusammenarbeit offensichtlicher. Und dennoch bleibt: ohne Europa, ohne gemeinsame Impfstoff- und Schutzgüterbeschaffung, ohne finanzielle und materielle Unterstützung für angeschlagene Gesundheitssysteme wären die Zeiten düsterer geworden.

Natürlich fordert dieses Nebeneinander von Politikfeldern und Zuständigkeiten besonders heraus. 27 Mitgliedstaaten, drei stolze Institutionen und bummelig sieben politische Familien konstruktiv unter einen Hut zu bekommen, ist herausfordernd, bringt langwierige Entscheidungsprozesse und selten schnelle Kompromissfindung mit sich.

„Das Wesentliche aber bleibt: der Wille zum Kompromiss, zur Zusammenarbeit.”

Nicht immer ist das beim Rat gegeben, nicht immer zwischen Rat und Parlament. Mal liegt es am „Alter“ des Politikfeldes (siehe der Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts), mal an den grundsätzlichen Divergenzen der Mitgliedstaaten (siehe die Frage der Solidarität). Das ist allerdings eine Grundlage, die auch die Frage Bundestaat vs. Staatenbund nicht aufzulösen vermag. Nicht alle Probleme lassen sich durch bloßes Verschieben der Problemlösungserwartung auf die europäische Ebene beheben- zumindest dann nicht, wenn nicht zeitgleich die entsprechenden Kompetenzen mitgeliefert werden. Dafür braucht es den gemeinsamen Willen für Europa, auch und gerade dann, wenn es schwierig wird. Eine (Vor-)festlegung der Europäischen Union hingegen auf ein Szenario würde insbesondere in der derzeitigen Lage die Gefahr einer Spaltung der Union in sich tragen, die Union zusätzlich schwächen. In Zeiten fundamentalen Wandels durch die Pandemie, den Klimawandel, die Digitalisierung, das Bedürfnis nach JobsJobsJobs, in Anbetracht einer tiefgreifenden Verschiebung der internationalen Machtverhältnisse scheint das ein denkbar schlechter Zeitpunkt.

Auch wenn es zum Bedauern des ein oder anderen Europäers wesentliche Aspekte der europäischen Institutionen außer Acht ließ, war die große Stärke der sog. Solange-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, dass sie Raum für Entwicklung ließ, dass sie eben nicht eine abschließende Antwort gab und so eine Entscheidung entweder für den Bundestaat oder den Staatenbund erzwang.

Diesen Schwebezustand, diese permanente Anspannung sollten wir aushalten (können), wollen wir die Dynamik der Europäischen Union nicht zum Erliegen bringen und sie dem Kern ihrer Einzigartigkeit berauben. Dafür brauchen wir nicht weniger als handelnde Personen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die sich der Grenzen europäischer Zusammenarbeit ebenso bewusst sind wie der Chancen, die in der engeren Zusammenarbeit liegen. Es braucht eine faire politische Kultur, die die EU nicht für Dinge verhaftet, die sie gar nicht regeln darf.

„Und es Bedarf einer breiten Debatte insbesondere zwischen den Bürgerinnen und Bürgern über ihre Wünsche und Erwartungen an die Union- sowie natürlich die Bereitschaft aller, entsprechend in die engere Zusammenarbeit zu investieren.”

Die Zeitpunkt für die Konferenz zur Zukunft Europas ist dabei gleichwohl günstig wie notwendig. Mit dem Brexit, mit dem aufkeimenden Nationalismus in zu vielen Mitgliedsstaaten und Angriffen auf unsere Werte und rechtstaatliche Prinzipien reift das Bewusstsein dafür, dass diese Union nicht von allein weiter existiert, dass wir uns um sie kümmern müssen. Soll sie fortbestehen, muss sie besser werden. Fordern wir uns genauso, wie wir Europa fordern. Denn am Ende ist das, das beständige Tauziehen zwischen den Ebenen, der einzige Weg, die Einzigartigkeit der Union zu bewahren, gleichsam die „ever closer union“ mit Leben zu füllen wie den Anspruch der Einheit in Vielfalt. Nach den Krisen der vergangenen Jahre sollten wir es uns zugestehen, Europa intensiv und offen zu diskutieren. Und es Europa zugestehen, dass seine Einzigartigkeit Akzeptanz einfordert und hohe Anforderungen an unser Verantwortungsbewusstsein stellt. Gerade weil die politische Zeit scheinbar nur nach einfachen Antworten schreit, brauchen wir dieses Verantwortungsbewusstsein mehr denn je.

Aus: CIVIS & SONDE, Ausgabe 02 – 2021, https://www.civis-mit-sonde.de/portfolio/civis-2021-2/#dflip-df_3670/23/