“Europa wird durch Krisen aufgebaut und es wird die Summer seiner Lösungen sein”

Die Ausgangslage

Die letzten Jahre sind für Innen- und Sicherheitspolitiker auf europäischer Ebene keine leichten gewesen: Die ungelösten Fragen rund um eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik, die Pandemie und die damit einhergehende Wiedereinführung von unkoordinierten Grenzkontrollen, hybride (Cyber-)Attacken, instrumentalisierte Migration und nicht zuletzt der russische Angriffskrieg in der Ukraine haben uns herausgefordert. Es zeigt, dass viele vermeintliche „Selbstverständlichkeiten“ – Frieden, Freiheit, Stabilität – nicht mehr ohne Weiteres bestehen. Wir sind zusehends mit außereuropäischen Entwicklungen konfrontiert, die sich auf die EU auswirken, damit auf den Schengenraum und damit fundamental auf unsere nationale innenpolitische Lage. Gleichzeitig gehört die gemeinsame europäische Innenpolitik zu den jüngsten Politikfeldern der EU und bewegt sich tief im Bereich nationalstaatlicher Souveränität. Wir müssen aus guten Gründen abwägen, welche Ebene welche Verantwortung übernimmt.

Die letzten Jahre haben insbesondere im Bereich Asyl und Migration mehr als deut- lich gemacht, dass wir unseren (berechtigten) Anspruch an Humanität, an Grund- und Menschenrechte nur unter geordneten Bedingungen wirklich erfüllen können. Grundvoraussetzung dafür ist, sich der neuen geopolitischen Realitäten bewusst zu werden und ihnen gemeinsam zu begegnen. Gerade wenn und weil wir Errungenschaften wie den Schengen-Raum, der vier Freiheiten und unsere Grundwerte nicht aufgeben dürfen oder wollen.

Die 2020-Vorschläge für eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik

Die Debatte auf europäischer Ebene über eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik ist entsprechend keine neue und inhaltlich wenig überraschend. Und doch konnte sie auf politischer Ebene nie mehr als eine Ad-hoc-Wirkung in Krisenfällen entfalten: die Blockade, insbesondere unter den Regierungsvertretern im Rat vor allem um die Solidaritätsfrage herum, hat über Jahre hinweg eine dauerhafte, verlässliche Lösung verhindert.

Insbesondere vor diesem Hintergrund ist der 2020er-Vorschlag der Kommission zu verstehen, der nun insgesamt 13 neue oder modifizierte Rechtsakte umfasst. Ihm zugrunde liegt eine fast einjährige Konsultationsphase der Kommission mit den Mitgliedstaaten, in denen der Spielraum mit den Hauptstädten austariert wurde. Das war notwendig, um die Blockade unter den Mitgliedstaaten aufzulösen, hat jedoch zu Skepsis in Teilen des Parlaments geführt – nicht irrelevant, müssen sich doch am Ende drei Institutionen, 27 Mitgliedstaaten und die meisten politischen Familien einig werden.

Gleichzeitig fielen auch in dieser Legislaturperiode der Gesetzgebungsprozess und die Realität auseinander. Hohe irreguläre Zugangszahlen an der Außengrenze auf fast allen Routen, auf hohem Niveau gestiegene Sekundärmigration, neue Phänomene wie gezielt und bewusst gesteuerte Migrationsbewegungen, teils mit einem enormen organisatorischen Aufwand und zynischen Gewinn durch staatliche Akteure vorgenommen. Dramatische Verluste von Menschenleben auf dem Mittel- meer haben einerseits die bisherige Abwesenheit einer europäischen Lösung verdeutlicht, gleichzeitig aber auch die Notwendigkeit mehr als unterstrichen. Europa kann und darf sich insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Veränderungen keine weitere Verzögerung beim Pakt erlauben. Das Hangeln von Notlösung zu Notlösung ersetzt keine Politik und wird auch den Frust und das angeschlagene Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander nicht auflösen können.

Statt also in eine neue Migrationskrise zu schlafwandeln, braucht Europa eine Kette der Verantwortung: angefangen mit der Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Transitländern über einen funktionierenden Grenzschutz und starke Agenturen mit einem menschenwürdigen und effizienten Grenzverfahren, auf das sich alle ver- lassen können und das klar und frühzeitig zwischen Schutzbedürftigkeit und anderer Motivation unterscheidet, bis hin zur „internen Dimension“, der Frage der Solidarität und Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten bei der Aufnahme.

Neben dem Druck von außen nimmt auch der politische Druck des Europäischen Parlaments kurz vor Ende der Legislaturperiode zu, zu einer Einigung zu kommen. Vor diesem Hintergrund haben sich Rat, Kommission und Parlament auf die sog. Roadmap geeinigt, die eine stufenweise Annahme und Abstimmung zentraler Rechtsakte des Paktes in den nächsten Wochen mit dem übergeordneten Ziel vor- sieht, vor der Wahl 2024 den Gesetzgebungsprozess final abgeschlossen zu haben. Der Vereinbarung gemäß haben sich Rat und Parlament bereits auf die Reform des Resettlement-Rahmens geeinigt, die Triloge für die Qualifizierungsrichtlinie (die die Kriterien der Schutzbedürftigkeit und die damit verbundenen Rechte festlegt) sowie die Richtlinie über Unterbringungsbedingungen sind geöffnet und abgeschlossen worden.

Zentral in der Debatte sind damit vor allem noch fünf Rechtsakte: die Eurodac-Verordnung (Datenbank zur Speicherung von Fingerabdrücken), die Screening-Verordnung (Abnahme von Fingerabdrücken, Gesundheits- und Sicherheitscheck), das re- formierte Grenzverfahren, die Asyl- und Migrationsmanagementverordnung (in welcher die Solidaritätsfrage steckt) sowie der Krisenmechanismus. Es sind damit vor allem die Rechtsakte, die der Europäischen Union ermöglichen sollen, Fluchtbewegungen besser zu antizipieren, möglichst früh- zeitig auf Herausforderungen reagieren zu können, sowie die Rechtsakte, die in der Bewältigung zu einem verlässlichen und effizienten Vor-Asylverfahren konstitutiv dazugehören und eine sinnvolle und planbare Verantwortungsteilung der Mitgliedstaaten erst ermöglichen.

Handlungsleitendes Prinzip muss hierbei meines Erachtens sein, dass wir keine formschönen Lösungen auf dem Papier finden, sondern funktionierende und effiziente Verfahren schaffen, die frühestmöglich Rechtssicherheit für Schutzsuchende, Ersteinreiseland und Aufnahmeland schaffen. Das kann und muss auch unter Rückgriff auf europäische Anerkennungsquoten passieren, die ein guter Indikator für die nationalen Verfahren sind und die Harmonisierung der Anerkennung, aber auch die gegenseitige Übernahme von Ablehnungsentscheidungen innerhalb der EU erleichtern.

Selbstredend muss diese Vorprüfung auf Schutzbedürftigkeit im Einklang mit unseren Grund- und Menschenrechtstandards passieren. Sie darf jedoch nicht so mit Klagemöglichkeiten und aufschiebender Wirkung überladen werden, dass eine effektive und effiziente Anwendung von vorn- herein konterkariert wird. Und Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien heißt in diesem Fall auch: Wer abschließend und objektiv keinen Anspruch auf Schutz hat, darf nicht über ein Asylverfahren ein Aufenthaltsrecht erhalten und muss die Union wieder verlassen. Deswegen kommt der frühestmöglichen Prüfung der Schutzbedürftigkeit und der Verteilung unter den Mitgliedstaaten erst im Anschluss so eine große Bedeutung zu.

Daran schließt sich unmittelbar die zweite Gretchenfrage des Paktes allein schon aufgrund seiner Geschichte an: die Art und Weise, wie Mitgliedstaaten untereinander Solidarität leisten. Der Pakt sieht hier einen Instrumentenkasten vor, der je nach Belastung eines Mitgliedstaates unterschiedliche Verpflichtungen der anderen Mitgliedstaaten nach sich zieht. Prinzip ist hier die längst mögliche freiwillige Koordinierung und Hilfe, kann aber bei Nicht-Erfolgen in Krisensituationen in verpflichtender Solidarität münden. Aufgrund der politischen und geopolitischen Veränderungen im Rat ist das in den jetzigen Beratungen deutlich weniger kontrovers, als es in der Vergangenheit der Fall war. Zu den Instrumenten gehören die Unterstützung finanzieller oder struktureller Art, die freiwillige Aufnahme sowie stärkere Unterstützung für und durch Frontex und unsere Asylagentur. Die ursprünglich auch angedachten „Rückführungspatenschaften“ hingegen stoßen unter den Mitgliedstaaten nicht auf Begeisterung und werden vermutlich aufgrund mangelnder Umsetzbarkeit nicht Teil des Paktes sein. Damit kommt im Umkehrschluss der europäischen Koordinierung von Rückführungen und freiwilliger Ausreise eine höhere Bedeutung zu. Frontex hat hier mit dem 2019er-Mandat eine stärkere Rolle zugewiesen bekommen, für die es jedoch auch den politischen Rückhalt braucht, genauso im Übrigen wie für die wichtige Zusammenarbeit der Agentur(en) mit Drittstaaten.

Gleichzeitig setzen wir uns im Pakt dafür ein, dass die finanzielle und strukturelle Unterstützung der Europäischen Union, auch durch unsere Agenturen, im Zuge der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik ausgebaut wird. Mitgliedstaaten sollen bei der Bewältigung der Herausforderung stärker auf die Unterstützung der europäischen Ebene wie bspw. der Europäischen Grenz- und Küstenwache, der Agentur für Asylfragen sowie auf finanzielle Mittel zum Aufbau von Unterbringungskapazitäten zurückgreifen, um so ihre eigenen Strukturen zu entlasten.

Damit ist der aktuelle Pakt-Vorschlag vor allem um die beiden großen Flaschenhälse der vergangenen Jahre herum aufgebaut: die langen Verfahren und mangelnde Rückführungen; beides führte in Summe zu einer permanenten Be- und an einigen Stellen auch zur Überlastung der Aufnahmekapazitäten und -bereitschaft. Vor Ort, besonders in den Sekundärmigrationsstaaten stößt dabei auf, dass nicht nur die fehlende Registrierung an der Außengrenze, sondern auch die fehlende Rückführungsperspektive eine effektive Abschiebung oftmals verhindert.

Deswegen ist es eine richtige Entscheidung der schwedischen Ratspräsidentschaft gewesen, sich wieder verstärkt den Kooperationen mit Drittstaaten zu widmen. Dahinter steht der richtige Gedanke, kurzfristig eine Entspannung an den Außengrenzen zu erreichen, auf Dauer vor allem irreguläre Migration möglichst vor Entstehung zu unterbinden und die Rücknahme der Staatsangehörigen durchzusetzen. Die sog. „externe Dimension“ des Paktes gehört allerdings auf europäischer Ebene zu den umstrittenen Instrumenten, weil Teile der Verhandlungsführer darin eine vermeintliche Verlagerung europäischer Verantwortung auf Drittstaaten sehen.

Meiner Meinung nach wird umgekehrt ein Schuh daraus: Klug kombinierte Angebote zur Verbesserung der Lebenssituation vor Ort und zur koordinierten legalen Migration einerseits sowie das Erfordernis der Rücknahme und des Kapazitätenaufbaus im Bereich Grenzmanagement und im Kampf gegen Schleuser/kriminelle Netzwerke andererseits sind eine sinnvolle Ausgestaltung unserer Zusammenarbeit mit den wichtigsten Herkunfts- und Transitstaaten, mithin genau das Gegenteil einer Verlagerung von Verantwortung. Ergänzt werden kann und muss das durch eine sensible Nutzung der Visapolitik inklusive Visahebel – die Möglichkeit dazu besteht, die Mitgliedstaaten müssten sie nur gemeinsam und am besten untereinander abgestimmt nutzen.

In der Gesamtschau wird eines deutlich: Die Schwäche des Paktes, seine Komplexität, ist gleichzeitig seine Stärke: Er hat Instrumente für Krisen, er hat Elemente für eine effektive Rückkehr, für Seenotrettung und für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten, er wird flankiert durch die Vorschläge zu legalen Wegen und gegen Instrumentalisierung, er baut auf wirksame Grenzkontrollen. Er kann in der Gesamtheit die beste Wirkung entfalten. Das bringt aber auch mit sich, dass schwerlich einzelne Teile ohne Auswirkungen auf die anderen verhandelt werden können, der wohl geläufigste Satz in den letzten drei Jahren war: „Nothing is agreed until everything is agreed”.

Die Anpassung an geopolitische Realitäten

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine mit der brutalen Eskalation seit letztem Februar haben ein weiteres, bisher ungenutztes Instrument der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik in die Debatte geholt: Ursprünglich entstanden 2001 vor dem Hintergrund der Balkankriege, ist die sog. Massenzustromrichtlinie oder in der besseren Übersetzung: temporäre Schutzrichtlinie (TPD, temporary protection directive), seit 2022 weithin bekannt. Diese einmalige Aktivierung sollte vor allem drei Ziele erfüllen: unmittelbaren Schutz bei Erreichen der Europäischen Union gewährleisten, ein geopolitisches Signal der Nicht-Erpressbarkeit durch Migrationsbewegungen senden und nationale Asylsysteme nicht überlasten. Alle drei Ziele sind bis heute erfüllt. Durch die TPD finden rund vier Millionen Ukrainer Schutz in der Europäischen Union.

Eines war jedoch bereits bei der Aktivierung klar: Die Kapazitäten der Mitgliedstaaten, insbesondere bei den versprochenen Rechten wie Zugang zu Unterkunft, Versorgung, Bildung und Betreuung und Ar- beitsmarkt, werden ein Flaschenhals, der sich schnell zur Herkulesaufgabe entwickeln kann. Und das nicht nur, weil zwischen formalem und materiellem Anspruch in den Mitgliedstaaten erhebliche Unter- schiede bestehen, sondern schlicht und ergreifend, weil die geografische Lage mehr über den Umfang der Herausforderung aussagt als der theoretische Anspruch der gleichen Lastenteilung. War es bei bisherigen Migrationsbewegungen vor allem der europäische Süden, der betroffen war, verlagert sich die hauptsächliche Herausforderung mit dem russischen Angriffskrieg an die östliche Außengrenze der Union. Deutschland steht bei beiden Bewegungen im Mittelpunkt, denn die wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen hierzulande sprechen für sich und die fehlenden Konsequenzen bei illegaler Einreise im Sinne nicht erfolgender Rückführung sind noch immer zu offensichtlich.

Nach Aktivierung der TPD hat Europa im Rahmen seiner Möglichkeiten finanzielle Unterstützung gewährt, wir können Möglichkeiten der Solidarität und Verantwortungsteilung unter den Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen. Angefragt und vor allem aktiv genutzt werden muss das aber von den jeweiligen Regierungen. Daher ist die TPD auch ein Lackmustest dafür, wie ernst die bisher freiwilligen Koordinierungsmechanismen genommen werden. Die Technik steht, jetzt liegt der Ball im Feld der Mitgliedstaaten.

Denn klar ist auch: Wer im Zuge der TPD im Rat „A“ sagt und Zusagen macht (im Übrigen ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments), der muss im eigenen Land auch „B“ sagen. Die nötige Abstimmung und Koordinierung zwischen Bund, Ländern und Kommunen muss in Deutschland vollzogen werden, halbherzige und verspätete Gipfel sind nicht hilfreich. Es geht nicht nur um die notwendige finanzielle Unterstützung der Kommunen bei der Bewältigung der Aufgabe (eigentlich ein zutiefst logischer Schritt: verschiebe ich Verantwortung zwischen den Ebenen, muss ich die entsprechende organisatorische und finanzielle Unterstützung mit- oder wenigstens nachliefern), sondern auch darum, dass tragfähige Strukturen aufgebaut und, wo vorhanden, geschützt werden müssen. Es kann nicht Aufgabe der Landräte, Bürgermeister und (oftmals ehrenamtlichen) Hilfsorganisationen sein, dauerhaft in die Bresche zu springen. Sie haben in den letzten Monaten Herausragendes geleistet, sie sind es, die alle Hebel in Bewegung setzen, wenn offizielle Zuteilung und Lage vor Ort nicht übereinstimmen; sie sind es, die der Menschlichkeit, derer wir uns alle rühmen, ein Gesicht geben. Ihre Hilferufe sind kein parteipolitisches Geplänkel, sondern Ausdruck von Aus- und Überlastung und auch Frust. Sie gehören ernst genommen, nicht ignoriert.

Das bringt aus meiner Sicht u. a. auch mit sich, dass weitere Aufnahmeprogramme aus humanitären Gründen eng mit den ausführenden Stellen abgestimmt werden müssen und im Vorfeld ein Einvernehmen über Aufgabenteilung und finanzielle sowie organisatorische Unterstützung hergestellt werden muss. In Anbetracht des Kriegsausbruches ist eine gewisse Phase der Ad-hoc-Lösungen akzeptabel. Über ein Jahr und weitere Fluchtbewegungen später, müssen sich insbesondere die Verantwortlichen in Landkreisen, Städten und Gemeinden auf belastbare Strukturen verlassen können.

Dazu gehört im Übrigen auch, die Auswirkungen der eigenen Politik nicht nur auf die Landkreise, Städte und Gemeinden zu überprüfen, sondern auch die Akzeptanz der europäischen Partner. Gerade in der Asyl- und Migrationspolitik haben nationale Alleingänge verheerende Auswirkungen für das notwendige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander und perpetuieren eine Situation, die wir seit über acht Jahren auf europäischer Ebene versuchen zu lösen. Als ein Land, dass in der Mitte der Union liegt, muss nationalen Entscheidungsträgern klar sein, dass sämtliche Ideen und Entwürfe in der Zu- und Einwanderungspolitik Signale senden, deren Auswirkungen vor allem im irregulären Bereich zuerst die Außengrenzstaaten der Europäischen Union merken. Sowohl die Debatte um das Chancenaufenthaltsrecht als auch die Finanzierung von Seenotrettung aus dem Bundeshaushalt lassen diese Sensibilität vermissen und führen zu entsprechendem Unverständnis und zu nachvollziehbarer Frustration bis Resignation bei unseren Partnern.

Andere Ausgangslage: legale Zuwanderung

Obgleich thematisch mit dem Pakt verbunden und deswegen auch als flankierende Vorschläge angelegt, muss aus meiner Sicht eine wesentliche Unterscheidung gemacht werden: Legale Zuwanderung ist ein anderes Instrument als die Gewährung von Asyl aus humanitären Gründen. Ausgestaltung, Kriterien und Personenkreis sind aus guten Gründen vollkommen andere. Asyl ist ein hohes Schutzgut, das reaktiv aus- gelegt ist, der Bereich der legalen Migration hingegen ist etwas, dass sich (pro-)aktiv steuern lässt.

Als Europäische Union sind unsere Möglichkeiten hier begrenzt und beziehen sich vor allem auf sektorale Gesetzgebung wie etwa zur Zuwanderung für Hochqualifizierte über die Blue Card oder Regelungen für Forscher oder Saisonarbeitskräfte. Dem- entsprechend hat die Europäische Kommission mit dem Skills Package vor allem nicht regulative Maßnahmen wie den Auf- bau der Talentplattform vorgeschlagen, die Arbeitskräftepotenzial und Arbeitsmarktbedarf besser zusammenbringen soll. Diese Plattform wird im Zusammenhang mit der TPD erstmalig für Ukrainer aufgebaut und ausprobiert, kann bei Erfolg aber auf andere Nationalitäten ausgeweitet werden.

Eine Verbindung zur Zusammenarbeit mit Drittstaaten im Pakt ergibt sich über die sog. Talent Partnerships, die legale Migrationswege als Angebot gezielt zum Gegen- stand der Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten machen sollen und damit am ehesten noch dem Prinzip der zirkulären Migration Rechnung tragen können.

Bei den wenigen regulativen Vorschlägen konzentrieren wir uns derzeit auf die Reformen der kombinierten Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis sowie die Stärkung der innereuropäischen Mobilität nach Erlangung des rechtmäßigen Aufenthalts, um interessierten Fachkräften den Einstieg in den europäischen „Arbeitsmarkt“ zu erleichtern. Nicht ganz unwesentlich dabei wird ein noch kommender Vorschlag sein, der sich mit der verbesserten Anerkennung von Qualifikationen befasst und vermutlich prozedural fast mehr Erleichterung, beschleunigte Verfahren und Effizienz mit sich bringt.

Gleichzeitig können auch wir über andere Politikbereiche die Attraktivität der Europäischen Union als „Arbeitsmarkt“ steigern: durch den Abbau von bürokratischen Hemmnissen, durch attraktive Lebensbedingungen, durch eine starke Wirtschaft. Denn fest steht, dass wir in allen Mitgliedstaaten noch Potenziale bei der (Re-)Aktivierung des eigenen Arbeitskräftepools haben, sodass die meisten Mitgliedstaaten einer über das aktuell diskutierte Skills Package hinausgehenden, gar horizontalen Regulierung auf europäischer Ebene aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsmarktbedürfnisse eher skeptisch gegenüberstehen.

Wie stehen die Chancen für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik?

In den kommenden Wochen wird sich mit den Abstimmungen in erster Lesung und dem potenziellen Beginn der Trilogverhandlungen zeigen, ob und wie weit der Einigungswille unter den Mitgliedstaaten im Rat und unter den Fraktionen im Parlament trägt. Entscheidend ist für mich, dass die Vorschläge nicht nur administrativ und judikativ bestehen können müssen, sondern auch organisatorisch. Wir alle werden daran gemessen, ob wir an der aktuellen Ausgangslage etwas verbessern konnten. Das bedeutet in der Funktionslogik der Europäischen Union, dass im Zweifelsfall alle (schmerzhafte) Kompromisse machen müssen.

Ist der Pakt also eine Antwort auf alles? Mitnichten – und das kann er auch nicht. Kriege und Krisen werden auch in Zukunft Fluchtbewegungen auslösen, denen wir uns stellen werden. Europa ist keine Insel, wir müssen uns mit den geopolitischen Verwerfungen der jüngsten Zeit vertraut machen. Was der Pakt aber kann: Verlässlichkeit unter Partnern herstellen und Vertrauen in die gemeinsame Bewältigung von Herausforderungen schaffen. Das Hangeln von Notlösung zu Notlösung, das Umgehen der Regeln endlich beenden. Die Balkanroute hat in den letzten Wochen gezeigt, dass gemeinsames Vorgehen als EU einen Effekt hat, ähnlich wie die Erfolge der Kommission im Einsatz gegen instrumentalisierte Migration wie bspw. in der Belarus-Krise gegenüber dem Baltikum und Polen. Dass diese mehr als zynischen Beispiele staatlicher Schleuserkriminalität bisher keinen „Erfolg“ gehabt haben, spricht für die Einigungsfähigkeit der Union auch in so schwierigen und komplexen Themenfeldern wie Asyl und Migration.

Denn am Ende bleibt, dass Asyl und Migration nicht durch Mitgliedstaaten allein gelöst werden können, dafür sind die 27 Mitgliedstaaten der EU längst zu sehr mit- einander verwoben, nicht zuletzt über den Schengenraum, eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union und mittlerweile Teil unserer DNA. Aber diese Errungenschaft muss gehegt und gepflegt werden, die letzten drei Jahre haben mehr als deutlich gemacht, dass sie nicht selbst- verständlich erhalten bleibt. Diese Verletzlichkeit, aber auch diese Interdependenz, müssen wir uns eingestehen und sie mutig nutzen. Das sind wir auf europäischer Ebene nicht nur den Bürgern schuldig, das sind alle Mitgliedstaaten denen schuldig, die die Hauptlast der Verantwortung tragen. Und nicht zuletzt ist es sich die Europäische Union mit einem hohen Anspruch an eigene Handlungsfähigkeit selbst schuldig.